Neurozentriertes Training
Es geht darum, nicht nur an der Hardware zu arbeiten, sondern auch an der Software. Physiotherapeutisch übersetzt bedeutet das: um Schmerzen zu lindern und Funktionen zu verbessern, ist es wichtig, sich nicht nur um die körperlichen Strukturen wie Muskeln, Sehnen, Faszien, Gelenke und Nerven zu kümmern, sondern auch zu schauen, ob unser Gehirn alle Informationen erhält, die es braucht und diese richtig verarbeitet.
Die erste Aufgabe unseres Gehirns ist nämlich, unser Überleben zu sichern. Klingt dramatisch, ist aber so. Um entscheiden zu können, ob nun Gefahr droht oder nicht, braucht unser Gehirn Informationen und muss diese verarbeiten können.
Führt die Bewertung dazu, dass Gefahr droht, sendet unser Gehirn Aktionssignale an unseren Körper, damit wir uns bewegen, damit wir etwas ändern. Schmerz ist zum Beispiel solch eine Aktionssignal vom Gehirn an den Körper. Im besten Falle bewirkt Schmerz also, dass wir uns bewegen im weitesten Sinne oder die Bewegung, die wir bisher getan haben, verändern und somit wieder Sicherheit hergestellt wird. Dann wird auch das Schmerzsignal eingestellt.
In akuten Situationen, wie zum Beispiel das Fassen auf die heiße Herdplatte, leuchtet das ein, oder?
Häufig leiden Menschen unter Schmerzen, obwohl die Gefahr längst vorbei ist – dann sind Schmerzen chronisch geworden.
Hier kann die Therapeutin durch gezielte Befundung herausfinden, wo es an Informationen fürs Gehirn fehlt und ob die Verarbeitung richtig läuft.
Was braucht unser Gehirn, um beurteilen zu können, ob Gefahr droht? Informationen. Woher bekommen es diese? Aus unseren Wahrnehmungssystemen. Welche Wahrnehmungssysteme stehen dem menschlichen Körper zur Verfügung?
- Das taktile System: hier werden Informationen, durch Berührungen wahrgenommen.
- Das visuelle System: hier werden Informationen über die Augen aufgenommen.
- Das vestibular System: hier werden Informationen über das Innenohr zur Position des Kopfes im Raum geliefert.
- Das Propriozeptive System: hier werden Informationen zur Position unserer Gelenke im Raum gegeben.
Es gibt weitere Systeme. Aber im Rahmen der Physiotherapie sind das erstmal die wichtigsten.
Was passiert, wenn eines oder gar mehrere dieser Wahrnehmungssysteme defekt sind? Unser Gehirn erhält Fehlinformationen! Das ist tatsächlich dramatisch. Denn jetzt ist das Gehirn nicht mehr in der Lage, die Situation angemessen zu beurteilen. Es sendet Aktionssignale, zum Beispiel Schmerzen an den Körper, die unnötig sind! (Nicht zu verwechseln mit akuten Situationen, in denen Schmerz überlebenswichtige Handlungen bewirkt.)
Deshalb ist es superwichtig und sinnvoll, wenn jemand chronische Schmerzen hat, die Funktionsfähigkeit der Wahrnehmungssysteme zu überprüfen!
Unser Gehirn priorisiert die Informationsquellen danach, welche ihm am schnellsten Auskunft über mögliche Bedrohungen liefert. Daraus entsteht eine sogenannte neuronale Hierarchie. In Zahlen lässt sich das folgendermaßen ausdrücken:
Visuelles System = 40%
Vestibuläres System = 35%
Propriozeptives System = 25%
Diese Zahlen sind grobe Richtwerte. Die Reihenfolge bleibt jedoch unverändert: das visuelle System ist das wichtigste, dicht gefolgt vom vestibulären System. Sind alle drei Systeme voll funktionsfähig, können wir unsere volle Leistungsfähigkeit abrufen und sind frei von Schmerzen – soweit keine tatsächliche Bedrohung besteht. *
Es gibt in unserem Gehirn eine ganz Menge „3D-Landkarten“ von unserem Körper. Im Laufe des Lebens können durch Verletzungen - oder durch Nichtbenutzung oder einfach älter werden - eine Art „blinde Flecken“ auf diesen Landkarten entstehen. Stell Dir vor, Du willst irgendwo hin, aber auf Deiner Karte fehlen Informationen. Da ist es zwar nicht unmöglich, aber deutlich schwieriger zum Ziel zu finden. Durch gezieltes Training der Augen, nach einer ausführlichen Befundung des visuellen Systems, kann zum Beispiel eine dieser Landkarten verbessert werden und schon kannst Du Dich leichter, koordinierter und schmerzfreier bewegen.
UND was unser Gehirn außerdem ganz dringend braucht zum Überleben und zur angemessenen Einschätzung von Situationen ist ENERGIE. Die bekommt es in erster Linie aus unserem Atem- und Verdauungssystem. Dazu zu einem späteren Zeitpunkt mehr.